Werkeinführung zu unserem Konzert am 22. 12. 2006
Johann Sebastian Bach
Weihnachtsoratorium BWV 248
Vermutlich gehört kein anderes musikalisches Werk so sehr zu Weihnachten wie das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Und vermutlich erlangte kein zweites Werk Bachs solche Popularität wie dieses. “WO” nennen es Insider schlicht, und es ist eines von drei Bachschen Werken, denen der Komponist den Titel “Oratorium” zugedacht hat.
Dabei handelt es sich eigentlich um einen Kantaten-Zyklus, dessen sechs Teile an den damals drei Weihnachtsfeiertagen, dem Neujahrsfest, dem Sonntag nach Neujahr und dem Epiphaniasfest aufgeführt wurden. Durch seine Bildungsreise in den Norden ist Bach schon 1705 mit ähnlich groß angelegten musikalischen Formen in Berührung gekommen. Für die Weihnachtsfeierlichkeiten der Leipziger Hauptkirchen St. Nicolai und St. Thomae zur Jahreswende 1734/35 komponierte er nun selbst eine solche Großform.
Die sechs Teile sind in sich geschlossen, was nicht nur durch den Textzusammenhang, sondern auch durch die musikalische Anlage deutlich wird. Als Jubelton spannt D-Dur den tonartlichen Bogen über das gesamte Werk. Es eröffnet im ersten Teil, kulminiert im dritten und kehrt in Teil sechs schließlich zur Grundtonart zurück. Die übrigen Kantaten sind von verwandten Tonarten geprägt. Die Subdominante G-Dur ist charakteristisch für den pastoralen Inhalt des zweiten Teils. Im vierten erzeugt die Parallele der Mollvariante, F-Dur, eine gefällige Ruhe und A-Dur, die Dominante ist Ausdruck von Zufriedenheit im fünften Teil.
Insgesamt versprühen die sechs Kantaten mit ihren Dur-Tonarten eine anhaltende Jubelstimmung, ein Umstand, der möglicherweise auch dem weltlichen Ursprung einzelner, beinhalteter Stücke geschuldet ist. Bach komponierte nämlich nicht das gesamte Material für sein Weihnachtsoratorium neu. Ein Großteil der Arien und nicht-choralgebundenen Chöre entstammt zwei Huldigungskantaten für das sächsische Herrscherhaus, die schon 1733 entstanden sind und ihrerseits wiederum auf früheres Material zurückgreifen. Bach übernimmt die Musik, arbeitet sie leicht um und unterlegt sie mit einem neuen Text. Aus “Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten” (BWV 214) wird “Jauchzet, frohlocket”, der imposante Eingangschor des Oratoriums, bei dem noch immer zuerst die Pauken, dann die Trompeten einsetzen.
Parodie nennt man dieses Verfahren und es entsprach der gängigen Praxis des Barockzeitalters. Der romantischen Vorstellung von der Einmaligkeit des einen vollkommenen Originals entsprach es jedoch nicht und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein war das Weihnachtsoratorium deshalb als imperfekt stigmatisiert. Generationen von Musikwissenschaftlern verwandten ihre Fähigkeiten darauf, Rechtfertigungen für seine Beliebtheit zu formulieren.
Dabei geht es in der barocken Affektenlehre nicht um eine musikalische Ausformung sprachlicher Begrifflichkeit, sondern um die Vermittlung überbegrifflicher Emotionen, eben Affekte und dahingehend kann die Freude beim Anblick des Jesus-Kindleins durchaus der Freude beim Lobpreis am Herrschersohn entsprechen. Dem barocken Anspruch eines aufeinander abgestimmten Wort-Ton-Verhältnisses wird das Weihnachtsoratorium also allemal gerecht. Es als Recycling-Produkt abzuwerten oder gar zu verschmähen wäre verkehrt, zumal es durchaus innovative Neukompositionen bietet.
Sämtliche Rezitative und Choräle sind exklusiv für das Weihnachtsoratorium geschaffen worden, ebenso die Sinfonia zu Beginn des zweiten Teils mit ihren Geigen, Flöten und Schalmaien. Neu komponiert wurde auch die Sopran-Arie “Schließe, mein Herze” als Zentrum der dritten Kantate und des gesamten Zyklus, obwohl Bach zunächst auch dort über eine Parodie nachdachte. Einen fast fertigen Satz in seiner Lieblingstonart h-Moll verwarf er, bevor die endgültige Fassung entstand. Einzigartig in Bachs Gesamtwerk bleibt das Duett aus Bass-Rezitativ und der Choralweise “Jesu, du mein liebstes Leben” im Sopran, das den Rahmen für die “Echo-Arie”, das geistige Zentrum der F-Dur-Kantate bildet.
Jede der sechs Kantaten hat ihr eigenes musikalisches Zentrum und folgt einer eigenen Binnenstruktur, was die Aufführung an verschiedenen Feiertagen ermöglichte. Betont wird dabei oft die pietistische Anlage der einzelnen Teile, die mit der Folge Evangelist, frei gedichtetes Rezitativ, Arie und Choral der Vorstellung der Bibellektüre von Lesung, Betrachtung, Gebet und Amen der Gemeinde entspräche. In seiner Reinform trifft dies aber nur auf die erste Kantate wirklich zu. Das Pietistische liegt vielmehr in den theatralisch, bildreichen Choralstrophen, die Bach vom Textdichter Paul Gerhardt übernahm.
Nur einmal wurde das Weihnachtsoratorium zu Bachs Lebzeiten aufgeführt. Erst 1857 brachte die Singe-Academie zu Berlin, die auch im Besitz des Autographen war, das Werk wieder auf die Bühne. So konnte es schließlich seinen Siegeszug antreten. Heute wird das WO selten auf verschiedene Feiertage verteilt aufgeführt, eher finden sich Teilaufführungen der Kantaten I-III und IV-VI. Die Berliner Singakademie wird am 22.12.2006 jedoch den gesamten Zyklus an einem Konzertabend darbieten. Drei Stunden Bachscher Jubelchöre, Arien und Rezitative werden die Weihnacht gebührend einläuten.
___________________
© abgedichtet.org 2006