Claudio Monteverdi: Marienvesper

Werkeinführung zu unserem Konzert am 23.12.2008

Claudio Monteverdi

Marienvesper

An dem um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert einsetzenden musikalischen Stilwandel war Claudio Monteverdi maßgeblich beteiligt; man darf den 1567 in Cremona geborenen und 1643 in Venedig gestorbenen Komponisten einen Avantgardisten seiner Zeit nennen.

Es war dies die Epoche, in der von Italien ausgehend ein neues Kompositionsprinzip seinen Siegeszug in der Musik begann: das Concerto-Prinzip, das auch in der Kirchenmusik Eingang fand: Zwar pflegte man weiterhin den traditionellen Chorklang, kontrastierte diesen aber mit solistischen Teilen („concerto“), die vom Charakter völlig neu waren: stark melismatisch und von höchst artifizieller Melodik. Aber auch der Chorklang selbst wandelte sich. Anstelle des gleichsam schwerelosen polyphonen Gewebes, in dem alle Stimmen gleichberechtigt dahinschweben, wird der bassbeschwerte, blockhaft-homophone Satz bevorzugt. Die alten Kirchentonarten verlieren zugunsten der Dur-Moll-Tonalität immer mehr an Bedeutung, und überhaupt wird der Satz harmoniebetonter – wozu auch die zur selben Zeit erfundene Generalbassbegleitung beiträgt; Wechsel der harmonischen Funktion werden bisweilen in einer Weise zelebriert, als stellten sie das Hauptereignis der musikalischen Aussage dar.
Aus Unzufriedenheit mit der etablierten polyphonen Mehrstimmigkeit fordern damals musikliebende Adlige in Florenz eine Rückkehr zur Monodie, zur Einstimmigkeit nach antikem Vorbild, und ihre diesbezüglichen Experimente führen zur Entstehung einer neuen musikalischen Gattung. Diese Gattung wiederum, die Oper, ist es, deren Kompositionsprinzipien im 17. Jahrhundert immer mehr auch die traditionellen Gattungen beeinflussen und den Stilwandel vorantreiben.

Es verwundert nicht, dass diese Neuerungen damals auf den Widerstand der Gralshüter der reinen Lehre stießen. Was man durch Monteverdi in Frage gestellt sah, waren der normbildende Stil des Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525–1594) und die zugehörigen Kontrapunktregeln von Gioseffo Zarlino (1517–1590). Berühmt wurde der Angriff von Giovanni Maria Artusi (um 1540–1613), der Monteverdi vorwarf, in seinen Madrigalen die Kontrapunktregeln zu verletzen. Monteverdi verteidigte sich im Vorwort zu seinem 5. Madrigalbuch von 1603 und kündigte an, die neue Kompositionspraxis in einer Abhandlung mit dem Titel „Seconda pratica“ zu beschreiben. Leider ist eine solche Abhandlung nie erschienen. Lediglich Monteverdis Bruder Giulio Cesare äußerte sich später noch einmal zu dieser Angelegenheit. Im Vorwort zu Monteverdis „Scherzi musicali“ (1607) stellte er die wichtigsten Unterschiede der beiden Kompositionsweisen klar: Während in der älteren „Prima pratica“ das Ziel in der Perfektion der Harmonie bestanden hätte, würde in der „Seconda pratica“ der Textausdruck Priorität haben, dem sich die Harmonie unterordne.

Dieser Streit ging auch noch nach Monteverdis Tod weiter; als Anwalt Monteverdis trat nun der längere Zeit in Warschau wirkende italienische Komponist Marco Scacchi (1602–vor 1685) in Erscheinung. Während in der Vergangenheit sich die Komponisten immer des gleichen Stils bedient hätten – einerlei, ob es sich um geistliche oder weltliche Musik handele –, würde die moderne Musik drei Stile aufweisen: den Kirchen-, den Kammer- und den Bühnenstil. Die Kirchenmusik betreffend, so führte Scacchi weiter in seinem „Breve discorso sopra la musica moderna“ von 1649 aus, ginge es nicht an, alles auf den Palestrinastil („un solo stile da Palestrina“) zurückführen zu wollen. Jedes Zeitalter müsse neue Stile versuchen und eine Vielfalt von Stilen verwerten.

Im Jahr 1610 war Claudio Monteverdi Kapellmeister am Hof des Herzogs Vincenzo I. von Mantua, wo er schon seit 1590 tätig war, zunächst als Violaspieler, dann ab 1601 als „Maestro della musica“, bis er schließlich im Jahr 1613 sein Amt als Domkapellmeister von San Marco in Venedig antrat, das er bis zu seinem Tod 1643 innehaben sollte. Als er 1610 in Venedig einen Sammeldruck mit geistlicher Musik erscheinen ließ, hatte er möglicherweise damit die Hoffnung auf eine Anstellung beim Vatikan verbunden; jedenfalls fuhr er im Herbst 1610 eigens nach Rom, um sein Werk Papst Paul V., einem Protagonisten der Gegenreformation, zu überreichen. Ungewöhnlich genug war allein der Titel:

„Sanctissimae | Virgini | Missa sensis vocibus | ad ecclesiarum choros | Ac Vesperae pluribus | decantanda, | cum nonnullis sacris concentibus, | ad Sacella sive Principum Cubicula accomodata“ („Der Heiligsten Jungfrau – Messe zu sechs Stimmen für Kirchenchöre – und mehrstimmige Vesper mit mancherlei geistlichen Gesängen – so zu singen in Kapellen oder geeigneten Fürstengemächern“). Bei der den Sammeldruck eröffnenden sechsstimmigen Messe handelt es sich um eine Parodiemesse auf Motive der Motette „In illo tempore loquente Jesu“ von Nicolas Gombert (um 1500–1556). Bemerkenswert ist, dass Monteverdi sich hier – wie übrigens auch in seinen beiden späteren, 1640 und 1651 gedruckten Messen – im reinsten Palestrinastil übt, also in der von ihm so genannten „Prima pratica“. Hingegen mischt er in der Vesperkomposition Prima und Seconda pratica zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk. Einerseits zeigt er sich hier dezidiert traditionsverbunden, indem er an den Gregorianischen Choral anknüpft – das jahrhundertealte, kanonisierte Erbe der abendländischen Kirchenmusik –, dessen Melodien er zur melodischen Grundlage seines Zyklus macht, andererseits kennt er keine Scheu, die Kirchenmusik durch die neuesten kompositorischen Techniken zu bereichern. So weist etwa die Komposition des zehnstimmigen Psalms 126 „Nisi Dominus“ (Nr. 8) mehrere kompositionstechnisch disparate Abschnitte auf: Polyphonen Abschnitten mit kunstvoller, unmittelbar hintereinander einsetzender kanonischer Stimmführung (am Beginn des Werks – Takte 1–35 – und im abschließenden „Gloria Patri“ –Takte 195–218) stehen Abschnitte gegenüber, die an die im 16. Jahrhundert vor allem in Venedig praktizierte Cori-spezzati-Technik erinnern: Die beiden fünfstimmigen, homophon gesetzten Chöre wechseln sich im Mittelteil zunächst versweise ab (Chor I: Takte 36–52, Chor II: Takte 50–66 usw.) und bilden anschließend eine Synthese. Als einigendes Band in allen Abschnitten fungiert der überall präsente Cantus firmus und der durchgehende Generalbass.

Seit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Monteverdi-Renaissance hat der Titel des Sammeldrucks zu Zweifeln Anlass gegeben, ob die Vesper überhaupt als einheitliches oratorisches Werk zu verstehen ist – und nicht etwa als ein loser, nicht in seiner Gesamtheit zur Aufführung bestimmter Zyklus. Befürwortern einer Gesamtaufführung gilt nicht zuletzt eine in dem Druck von 1610 vorkommende Zwischenüberschrift als Beweis. Dort ist der Beginn der Vesper in dem als Partiturersatz dienenden Bassus-generalis-Stimmbuch mit den Worten markiert: „Vespro della Beata Vergine da concerto composto sopra canti fermi“ („Marien-Vesper, zum Konzertieren, komponiert über Cantus firmi“). Kernstücke der Vesper bilden fünf Psalmvertonungen, zwischen die Monteverdi jeweils konzertante Teile eingeschoben hat. Aufführungspraktiker sind bis heute uneins in der Frage der korrekten liturgischen Funktion dieser Teile. Denn gemäß einer jahrhundertealten Tradition muss beim Psalmodieren jeder Psalm von einer Antiphon eingerahmt werden. Möglicherweise aber wollte Monteverdi in der Marien-Vesper die Antiphonen durch die Concerti nicht nur ergänzt, sondern gänzlich ersetzt wissen – eine Frage, die auch heute noch von Ausführenden unterschiedlich beantwortet wird. Unklar ist auch die liturgische Funktion des „Duo Seraphim“, des einzigen nicht-marianischen Textes, den Monteverdi in seinem Zyklusvertont hat: Anstelle Marias wird hier der Dreieinigkeit gehuldigt. Ferner lässt der Komponist die Aufführenden im Unklaren über die Zuordnung der Singstimmen auf Chor und Solisten. Ähnliches gilt auch für die Instrumentierung, die im Erstdruck nur an wenigen Stellen präzise vermerkt ist.

Der Einbruch des Opernhaften in die Musica sacra bleibt bei diesem Werk aber nicht nur auf die kunstvollen Concerto-Sätze beschränkt. So setzt Monteverdi ein für damalige Verhältnisse opulent besetztes Orchester ein – in ähnlicher Besetzung wie in seiner 1607 uraufgeführten ersten Oper „L’Orfeo“. Und damit nicht genug, lehnt er gleich am Beginn der Vesper den gewaltigen falsobordoneartigen Introitus kompositionstechnisch eng an die diese Oper einleitende Toccata an. Ferner lockert er auch innerhalb der Psalmvertonungen den polyphonen Fluss der Chorstimmen auf: nicht nur durch kurze rezitierende Abschnitte in unmensuriertem Falsobordone-Satz, sondern auch durch Orchesterzwischenspiele (Ritornelle) und solistische Abschnitte in arioser Faktur.

Lars Klingberg

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